Tag der Organspende - Verfassungsbeschwerde soll dramatische Situation bei der Organspende grundlegend verbessern
Berlin, 21.5.2024 - Die letzten Gesetzesänderungen in den Jahren 2019 und 2020 haben nicht zu einer Trendwende bei der Zahl der Organtransplantationen geführt. Im ersten Quartal dieses Jahres ist die Zahl der Organspender*innen im Vergleich zum Vorjahr erneut um 6% eingebrochen. Aufgrund der anhaltend alarmierenden Situation wird das Bündnis ProTransplant eine Verfassungsbeschwerde einreichen. Im Rahmen einer Pressekonferenz übten die Initiator*innen scharfe Kritik am deutschen Transplantationssystem und an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
„Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich verpflichtet, gesetzliche Rahmenbedingungen für eine Erhöhung der Zahl der Spenderorgane zu schaffen“, erläuterte Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Experte für Medizin- und Gesundheitsrecht. Die Schutzpflicht werde verletzt, wenn die Maßnahmen gegen den Organmangel unzureichend seien. Eine ausreichende Maßnahme wäre beispielsweise eine Widerspruchsregelung, für deren Einführung von NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann gerade ein Gesetzesentwurf erstellt wird, der am 14.6. im Bundesrat verabschiedet werden soll. Lindner verwies darauf, dass es auch darüber hinaus eine Vielzahl zusätzlicher Möglichkeiten gäbe, die Situation zu verbessern. Dazu gehören die Erweiterung der Lebendspendeoptionen, die Spende nach Herztod und die Verbesserung der Strukturen in den Kliniken.
Gravierende Unterschiede in den Kliniken
„Jahr für Jahr wird am Tag der Organspende der Eindruck erweckt, dass die Patient*innen gut versorgt wären – obwohl das Gegenteil der Fall ist“, betonte Zazie Knepper, Mit-Initiatorin der Verfassungsklage. Insbesondere in den Kliniken sei das Bewusstsein für die Organspende viel zu wenig verankert, wie Daten der deutschen Universitätskliniken zeigen. „Wie ist es möglich, dass in Freiburg zehn Mal mehr Organspender*innen gefunden werden als in Marburg, Jena und Erlangen?“, fragte Knepper. „Wird die gesetzliche Verpflichtung, bei allen Menschen mit irreversiblem Hirntod die Frage einer möglichen Organspende zu klären, wirklich überall umgesetzt? Oder hängt es vom persönlichen Engagement der Ärzt*innen auf den Intensivstationen ab?“, fragte sie. Erschwerend komme hinzu, dass das Transplantationssystem in Deutschland nicht unter staatlicher Aufsicht stehe. Dies mache es den beteiligten Akteuren leicht, Verantwortung hin- und herzuschieben.
Betroffene übernehmen staatliche Aufgaben
Dass das System noch irgendwie funktioniert, liege auch am freiwilligen Engagement der Betroffenen, die unermüdlich informieren, aufklären und Organspendeausweise verteilen, sagte ProTransplant-Sprecher Mario Rosa-Bian. „Trotzdem sind die Organspendezahlen weiterhin auf einem Tiefpunkt“, konstatierte er. Nach mehr als 30 Jahren eigenem ehrenamtlichem Engagement zieht er eine ernüchternde Bilanz: „Alle bisherigen Revisionen der Gesetzgebung – einschließlich der Reformen von 2019 und 2020 − haben nicht zu einer Verbesserung geführt.“ Die Verfassungsbeschwerde sei die logische Konsequenz eines jahrzehntelangen politischen Versagens. Hinsichtlich der Widerspruchsregelung sei Deutschland ein Trittbrettfahrer im Eurotransplant-Verbund. „Wir beziehen Organe aus Ländern, in denen die Widerspruchsregelung gilt – eine zentrale Maßnahme, die 2020 im deutschen Parlament keine Mehrheit fand. Karl Lauterbach befürwortet sie zwar, möchte aber selbst nicht aktiv werden, sondern verweist nebulös auf die ‚Mitte des Parlaments‘. Wir erwarten von ihm politische Führung und Übernahme von Verantwortung. Wenn er von der Widerspruchsregelung überzeugt ist, soll er sie umsetzen. Warum müssen wir Betoffenen unseren zuständigen Minister zum Jagen tragen?“
Im falschen Land schwer erkrankt
Leidtragende sind die Patient*innen, die auf unbestimmte Zeit auf der Warteliste stehen − die befürchten zu sterben, bevor das rettende Organ da ist. Einer von ihnen ist Andreas Gässler. „Ich lebe mit einem Kunstherz, das mich vermutlich nicht mehr allzu lange am Leben halten wird. In anderen europäischen Ländern wäre ich längst transplantiert. Ich möchte leben“, sagte der 38-Jährige. Dialyse-Patientin Ulrike Feuerhack sagte, sie habe das Pech, „im falschen Land krank geworden zu sein“. Insgesamt neun Jahre hat sie auf ihre erste Nierentransplantation gewartet. Im europäischen Ausland wären es ein bis zwei Jahre gewesen. Die Niere hielt 15 Jahre. Nun steht sie wieder auf der Warteliste. „Ich weiß nicht, wie lange mein Körper die belastende Dialyse noch durchhält“, sagte sie.
Medizinische Fortschritte kommen bei den Patient*innen nicht an
Eine Verfassungsklage sei überfällig, betonte Prof. Dr. Rainer Blasczyk, Leiter des Instituts für Transfusionsmedizin und Transplantat Engineering an der Medizinischen Hochschule Hannover. Die Diskrepanz zwischen Deutschland und den Nachbarländern sei so groß, dass eine Verletzung der Schutzpflicht unübersehbar ist. „Von wichtigen medizinischen Innovationen im Bereich der Organtransplantation profitieren Patient*innen aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung in Deutschland kaum“, sagte er. „Während hierzulande 40 Transplantationen pro eine Million Einwohner durchgeführt werden, sind es in anderen Ländern doppelt bis dreimal so viele. Die Sterberaten auf den Wartelisten für eine Leber oder Lunge sind im Vergleich zu anderen Eurotransplant-Ländern mehr als doppelt so hoch.“ Die jüngsten Erfolge mit Xenotransplantationen seien noch im experimentellen Stadium und böten kurzfristig keinen Ausweg.
Mario A. Rosa-Bian
Zazie Knepper